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Lorenz Böllinger: Über die Amoral der Extase


Extase - Angst - Moral

(Beitrag zur Festschrift für Herbert Jäger)

1. Drogen - der mythische Feind

Es herrscht Krieg. Nicht am Golf, nicht in Bosnien: das sind nur regionale "Brandherde". Nein, es ist eine neue Art von Weltkrieg, geführt von den U.S.A. und vielen braven Alliierten, Deutschland diesmal allen voran. Ein Konsens jenseits der Ideologien: auch das immer noch kommunistische China ist hier mit dem Klassenfeind, auch Diktaturen sind willkommen in der Phalanx. Erklärter Feind sind "die Drogen", die Hauptwaffe das Strafrecht. Die Strafverfolgungsbehörden genießen unermeßliche Zuwächse an Ressourcen. Bürgerrechte werden allenthalben gekappt, um der mit geschätzten 500 Milliarden Dollar umsatzstärksten Welt-Industrie, der Drogenkartelle, Herr zu werden. 40%-50% der 1 Million Gefangenen in den U.S.A., davon 80% Schwarze, sitzen wegen Drogen. Ähnliche Verhältnisse in Deutschland. Drogenverkehr und -verzehr nehmen aber trotzdem ungebremst zu. Das erscheint aus der in den urbanen Zentren zunehmend sichtbaren Drogenverelendung und -prostitution, den immens gestiegenen Zahlen von "Drogentoten", der Zunahme an abgefangenen Drogentransporten usw. erschließbar. Die beiderseitige Aufrüstung eskaliert also weiter.

Sieht man die verwahrlosten, verelendeten Fixer dann auch noch mit eigenen Augen, so erscheint die medienöffentlich verbreitete Botschaft prima facie evident: So was kommt von sowas. Das Elend kann nur von den Drogen kommen. Und es muß was dran sein an der väterlich-beschützenden Politiker-, Popen- und Pädagogen-Suada (den paternalistisch-protektiven Parolen) von der elementaren Bedrohung der Gesellschaft, des Staates, ja der Menschheit. Vom "Ungeist", von "teuflischen Drogen", von der "Geißel" oder "Pandemie", der Welt-Seuche, ist die Rede. Noch eine Apokalypse gefällig neben 3. und Um-Welt?

Geradezu biblische Imagines! Jedenfalls Vorstellungen, Phantasien und Empfindungen aus irrationalen, vorwissenschaftlichen Zeiten. Wenn nicht da auch eine "scientific community" wäre, welche diesen prima facie-Evidenzen wissenschaftliche Weihe zu verleihen scheint. Z.B. empirische Forschungsergebnisse über Zunahme von Erstgebrauch; psychopathologische Theorien über Sucht als "frühe Störung" oder Psychopathie-Variante; pharmakologische Theorien über irreversibel-physiologische Drogenwirkungen.

Folgerichtig hat der Staat die Pflicht, seine Bürger vor eigenem und fremdem Drogengebrauch zu schützen und das die "Volksgesundheit" bedrohende Übel auszumerzen. Auch wenn der Konsum illegaler Drogen an sich nicht unter Strafe steht, so wird doch faktisch auch der Gebrauch kriminalisiert, weil sämtliche Umgangsformen, die Voraussetzung des Gebrauchs sind, unter Strafe stehen. Also wird der Bürger bevormundet und vor sich selbst geschützt. Legitimiert wird das außer mit Gesundheitsschutz mit der Erwägung, daß derjenige, der sich seiner Freiheit entschlägt, die Freiheitsrechte verwirkt.


Sind wir auf dem richtigen Weg und brauchen lediglich noch mehr Waffen? Oder ist alles Don-Quijotterie? Ich will mich mit den Evidenzen an dieser Stelle nicht auseinandersetzen, gar nicht erst den Versuch machen, sie ein für alle Mal zu widerlegen. Ich möchte statt dessen ein methodologisches Verständigungsangebot zur Grundlage weiterer Überlegungen machen:

Zum einen müßten wir uns auf der epistemologischen Eben einigen können, daß ein hinreichend differenzierender Prozeß der Klärung, ein vielfältiger und vielschichtiger wissenschaftlicher Diskurs im Sinne einer Annäherung an komplexe "Wahrheit" bezüglich "der Drogen" noch nicht stattgefunden hat.

Zumindest besteht die nicht geringe Wahrscheinlichkeit, daß wir es bei den präsentierten "Evidenzen" nicht mit Wahrheit im Sinne der geltenden methodologischen Paradigmen zu tun haben: Falsifizierungen des herrschenden Drogen-Paradigmas sind zumindest teilweise gelungen; komplexe materialistische oder psychoanalytische Herangehensweisen deuten in dieselbe Richtung, daß die linear-kausale Erklärung der Drogenwirkungen mit der Drogensubstanz jedenfalls simplistisch und reduktionistisch ist. Wir bedürfen - aus welcher epistemologischen Sicht auch immer - differenzierterer und komplexerer Theorien.

Wissenschaftlicher Konsens besteht denn auch im Grundsatz über das interaktionelle, zumindest aber multifaktorielle Geschehen, welches gesellschaftlichen Phänomenen zugrundeliegt. Nür über Gewichtungen streitet man. Weitgehende Übereinstimmung gibt es zudem im Bereich der Kriminalwissenschaften und Kriminalpolitik, daß Strafrecht - wenn überhaupt - als alleiniges Mittel zur Lösung sozialer Probleme nicht taugt. Gewichtige Gründe, Forschungsergebnisse, Theorien sprechen vielmehr dafür, daß es sich bei dem "Drogenproblem" um die Erscheinungsform tiefgründender Inhalte handelt. Es geht um ein im doppelten Sinne gesellschaftlich konstruiertes Problem: die Problemrealität hat gesellschaftliche Bedingungen und steht in einem nur analytisch lösbaren Wechselwirkungszusammenhang mit deren gesellschaftlicher Wahrnehmung. Diese doppelte Vermittlung gilt es zu reflektieren und gleichsam als mathematische Unbekannte ins Kalkül einzubeziehen.

Die Betrachtung der "gesellschaftlichen Problemkonstruktion" umfaßt eine Analyse der vielfältigen und interaktionellen Bedingungen von Drogenkonsum. Diesen Aspekt will ich hier nur grob skizzieren: Die zufällige Entdeckung von und bewußte Suche nach psychotropen Substanzen, sowie deren Nutzung und fortwährende Raffinierung/Perfektionierung erscheint als anthropologische Konstante seit Anbeginn der Entwicklung des "homo sapiens" - des "schmeckenden" (!) Menschen. Als vorgegeben erachten kann man sowohl die physiologische als auch psychologische Disposition des Menschen (und vieler Tiere) für vielfältige psychotrope, über das zentrale bzw. vegetative Nervensystem vermittelte Affekt-Zustände von Erregung, Erregungsdämpfung, Hochgefühl, Rausch, Extase usw. Ist bei einer z.B. durch Messerstich verursachten Körperverletzung die Kausalität noch eindeutig linear, so gilt dies schon in weit geringerem Maße bei durch bestimmte Erreger bewirkten spezifischen Krankheitssymptomen: physiologische Eigenheiten und das seinerseits durch Sozialisation und aktuellen sozialen Kontext determinierte Psycho-Immun-System sowie die innerpsychische Sekundär-Verarbeitung der Krankheit bedingen die konkrete Ausgestaltung der Symptome. Dementsprechend spricht das Individuum auch in spezifischer Weise auf die auf den Erreger oder die Symptomentwicklung abzielende medikamentöse Einwirkung an. Weit stärker entkoppelt erscheinen "Ursache" und Wirkung bei unspezifisch auf das zentrale bzw. vegetative Nervensystem einwirkenden, psychotropen Pharmaka.

Relativ wenige der Zusammenhänge zwischen Krankheitserreger bzw. Pharmakon einerseits und Körperprozeß bzw. Symptom andererseits sind weitergehend als nur auf der Erscheinungsebene erforscht. Zumeist handelt es sich um widerlegliche medizinisch-theoretische Vermutungen und Konstruktionen. Vielfach werden sogar die Krankheitserreger lediglich postuliert (z.B. bei den Psychosen). Je lockerer zudem der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, je mehr "intervenierende Variablen" anzunehmen sind, desto ungesicherter die Theorie. Bei vielen pharmakologischen Interventionen weiß der Behandler buchstäblich nicht, warum und wie die Substanz wirkt. Zumindest stützt man sich auf noch nicht verifizierbare Hypothesen. Dies gilt erst recht für die psychotropen Drogen, wo zudem die Vermutung begründet ist, daß sie vielfach körpereigene Substanzen, z.B. die sog. "Endorphine", parallelisieren oder ersetzen, somit also lediglich ein dem Organismus eigenes, garnicht so "exogenes" Potential gleichsam künstlich substituieren, imitieren oder aktivieren. Damit ist noch nichts über mögliche Schadenswirkungen gesagt, nur, daß die individuelle Wirkung im Sinne eines Filterungsprozesses durch die spezifische subjektive Realität und Wahrnehmung mit Sicherheit verschieden ist.

Bei manchen Drogen ist ein Abhängigkeitspotential wissenschaftlich gesichert, soweit sich das in Begriffen von Entzugserscheinungen definieren läßt. Im übrigen sind aber auch das innerpsychische Erleben von und die Reaktion auf Abhängigkeit individuell spezifisch - ähnlich der spezifischen Verarbeitungsweise von anderen äußeren Einflüssen. Die individuelle Reaktion auf Drogen und der Verlauf der eventuellen Abhängigkeit sind bedingt durch eine Wechselwirkung von Droge, Set und Setting. Damit rückt schon die rein pharmako-psychologische Perspektive den situativen und zeitlichen sozio-genetischen Aspekt, die Querschnitt- und Längsschnittanalyse mit ins Zentrum der Betrachtung. Ein Beispiel: Unabhängig vom persönlichten "Set", z.B. einer individuellen Animierbarkeit und Suchtdisposition, variiert das Ausmaß des Genusses - und der Gefahr - z.B. eines hervorragenden Weines je nachdem, ob ich ihn in einem edlen Weinlokal in gemütlicher Abendrunde genieße oder ob ich ihn auf der Flucht vor der Polizei auf einer stinkenden Bahnhofstoilette sturzartig aus der Flasche saufe, der ich mangels geeigneten Korkenziehers in der Eile den Hals abgeschlagen habe.

Das "Setting", die konkrete äußere Drogenkonsumrealität, wird maßgeblich durch die gesellschaftliche Betrachtungsweise und Reaktion auf dieses Verhalten bestimmt. Zu untersuchen ist also der andere genannte Aspekt: die "Gesellschaftlich konstruierte Wahrnehmung" und Verarbeitung des Drogenproblems. Kriminologisch ausgiebig erforscht ist die dysfunktionale, kontraproduktive und zirkuäre Auswirkung der kriminalisierenden Drogenprohibition. Zugleich ist aus medizinisch-pharmakologischer sowie soziologischer Sicht evident, daß viele der illegalen Drogen unter geeigneten Bedingungen risikolos konsumiert werden können und daß auch der selbstbestimmte Ausstieg aus der Abhängigkeit möglich und nicht unwahrscheinlich ist.

Einwand: Die Gefahren von Mafia, "Organisierter Kriminalität" und "Makrokriminalität" von Staaten, die von Drogenkartellen unterwandert sind oder Drogenhandel treiben um sich zu refinanzieren oder andere Staaten zu destabilisieren, wie z.B. die U.S.A. Nicaragua, sind die nicht real? Zum einen handelt es sich bei der Mafia und dem "Organisierten Verbrechen" ja nicht um eine straff geführte weltweite Verschwörung, sondern um die Summation der Erscheinungen kapitalistischer Grenzmoral. Immer wieder kommt man ansonsten auf den destruktiven Zirkel: Prohibition ist eine wesentliche Existenzbedingung der Mafia.

Sicher waren psychtrope Drogen mit der Entwicklung menschlicher Kulturen zunehmend auch ein Mittel sozialer Integration und Kontrolle. Sie waren aber wohl eher in konstruktiver, positiver Weise eingebettet in gesellschaftliche und kulturelle oder subkulturelle Rituale, wie das heute mit den legalen Drogen weiterhin der Fall ist. Die Vermutung liegt nahe, daß erst mit der latenten Entwicklung der bürgerlich-industriellen Gesellschaft die Drogen zum negativen Bezugspunkt sozialer Integration wurden. Letzes Beispiel: das durch den U.S.-Supreme-Court bestätigte Verbot der Verwendung der kulturell und religiös tiefverwurzelten Naturdroge Peyote durch die amerikanischen Ureinwohner.

Im aktuellen "Krieg gegen die Drogen" wiederholt sich jedenfalls zum x-ten Mal der obrigkeitliche Versuch, den Umgang mit irgendeiner psychotropen Droge strafrechtlich oder sonstwie gewaltsam auszumerzen: im Mittelalter waren zeitweilig und in verschiedenen Ländern "kulturfremde" Drogen wie Kaffee, Tee, Alkohol und Tabak kriminalisiert bis hin zur Todesstrafe. All diese Verbote mußten dem massiven "Basisdruck" faktischen Massenkonsums weichen, nicht etwa der bewußten Einsicht in ihre Unschädlichkeit. Dasselbe Schicksal hatte - wie hinreichend bekannt - die Alkoholprohibition in den U.S.A. und anderen Ländern.

Ich lege also hier die These zugrunde: Nicht die Drogen sind in Wirklichkeit das Problem, sondern die herrschende Drogenpolitik erzeugt die sichtbare Drogenkatastrophe.


2. Die Abwehr gegen wissenschaftliche Aufklärung

Die U.S.A. verstehen sich als Prototyp einer kapitalistischen Gesellschaft, die Liberalismus und Pragmatismus auf ihre Fahnen geschrieben hat. Dem folgt, mit einer mehr sozialen Note, die Bundesrepublik. Selbst wenn man das gesetzgeberische Drogenprohibitions-Motiv "Schutz der Volksgesundheit" als aufrichtig voraussetzt, werden folgende Frage immer drängender:

- Warum führt das evidente Scheitern der Drogenpolitik immer nur zu einem "Mehr-von-Demselben"? und nicht zu einer Revision der Politik?

- Warum werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse von der Politik nicht wahrgenommen?

- Warum werden die eklatanten Widersprüche im Umgang mit legalen und illegalen Drogen angesichts der sichtbaren Verelendung der Endkonsumenten nicht wenigstens unter grundrechtlichen und humanitären Aspekten problematisiert?


Kaum je wird in der offiziellen Politik oder in den Gesetzesmaterialien der Versuch unternommen, die Gefährlichkeit oder das Böse "der Drogen" genauer zu benennen oder herzuleiten: es wird a-priorisch vorausgesetzt. Auch im Haager Abkommen von 1912, welches die U.S.A. dem Rest der Welt faktisch diktierten, sind außer der Suchtqualität der Opiate und des Kokains keine substantiellen Begründungen eigen.

Offenbar war seinerzeit die Sucht als die erst allmählich erkannte, mittelbare Drogenwirkung das Bekämpfte. Damit ist der Feind höchst abstrakt und, auch metaphorisch gesehen, vergeistigt konzipiert. Die unmittelbare Drogenwirkung, die ja von Substanz zu Substanz sehr unterschiedlich ist, scheint bei der Verbotsbegründung keine ausdrückliche und bewußte Rolle gespielt zu haben.

Damals mag im Bewußtsein der U.S.-Drogenpolitiker das Schema der Sucht-Gefahr - analog der Seuchen-Gefahr - maßgeblich gewesen sein. Mittlerweile verfügen wir über differenzierteres Wissen über die illegalen wie über die legalen Drogen, so daß deren Dichotomisierung ebenso obsolet geworden ist wie diejenige zwischen harten und weichen Drogen. Zum einen erscheint für viele Substanzen die Suchtgefahr widerlegt oder zumindest relativiert. Zum anderen ist der Suchtbegriff selbst höchst relativ bzw. normativ konstruiert. Gibt es doch in der Gesellschaft eine Unzahl von "Süchten", die von diversen Interessenten "entdeckt" und bekämpft werden.

Trotz aller Aufklärung und Rationalität, trotz Pragmatismus und Kosten-Nutzen-Optimierung, trotz Humanismus und Menschenrechtsorientierung der modernen, sich zivilisiert verstehenden Gesellschaften weisen die Konzepte und Metaphern im Zusammenhang der illegalen Drogen mehr denn je den Charakter von Mythen auf. Sie erscheinen resistent gegen Aufhellung und Entmsystifizierung.

Ich sehe sowohl in Politik wie in Justiz und Wissenschaft ein erhebliches Maß an Abwehr verfügbarer Wissensbestände, an Vermeidung sinnvoller alternativer Lösungsversuche. Ich sehe so etwas wie ein offiziell verordnetes Denkverbot. Das nenne ich Mystifizierung. Zugleich werden bestimmte überkommene Deutungsschablonen als "eherne Wahrheit" präsentiert: Das nenne ich Mythisierung. Schließlich werden diese Inhalte in Kategorien von Gut und Böse verortet und selbstgerecht mit allen Mitteln von Politik und Pädagogik sanktioniert: Das nenne ich Moralisierung. Dieser Dreiklank konstituiert eine spezifische Herrschaftstechnik.

Zwar sind wissenschaftlicher und politischer Dissens, eine zunehmende Strömung für "Akzeptierende Drogenarbeit" möglich. Jedoch scheinen mir nach wie vor die Kräfte für eine Prohibition der jetzt illegalen Drogen zu überwiegen. Ist der Impuls, psychotrope Drogen strafrechtlich kontrollieren zu wollen, unausrottbar?

Selbst wenn mir der Leser in meiner Skizze des "wahren" Entstehungszusammenhangs des Drogenproblems nicht zustimmt, erbitte ich doch - im Sinne einer wissenschaftlichen Kultur des Zweifels - die Bereitschaft zu einem Gedanken-Experiment. Nämlich mir probeweise in der Untersuchung folgen zu wollen, wie es in Gesellschaften, die sich dem "Projekt der Moderne" - Rationalität, Humanismus, Pragmatismus - verschrieben haben, zu diesen kontrafaktischen Denkverboten, Mystifizierungen, Mythisierungen und Moralisierungen kommt.

Kritisch-materialistischen, funktionalistischen oder sozialpsychologischen Denkansätzen folgend könnten wir fragen, welchen spezfischen, bisher nicht evidenten Nutzen der Staat aus der herrschenden Drogenpolitik zieht, so daß vorhin skizzierte Schadensbilanz, entkräftet wird. Sicherlich ist die Stilisierung einer Problemgruppe zu gefährlichen Außenseitern "sozio-hygienisch" konzipierbar im Sinne einer Verstärkung von Konformität und Normbewußtsein, stellvertretender Abfuhr von Aggressivität etc. Diese Funktionen leistet aber schon die "normale" Kriminalisierung. Die "besondere" Bedrohung, die der Drogengefahr und den Drogenkartellen zugeschrieben wird, dient sicher auch als guter Vorwand bzw. Verschiebungsersatz für die immanente und generelle Tendenz des Staates zur Kontroll-Intensivierung und zur Ablenkung von den eigentlichen sozialen Problemen und Krisen. Verschiebungsersatz ließe sich jedoch auch anderswo ausreichend finden, z.B. in der Gruppe der Ausländer. Solche Deutungen scheinen mir mithin nicht auszureichen, um die Irrationalität des herrschenden Systems zu verstehen.

Nun sind viele soziale Prozesse auf der rein kognitiv-rationalen Ebene nicht erklärbar. Es bleibt, sie mit den Mitteln der Analyse unbewußter Prozesse zu verstehen. Wir könnten zu diesem Zweck versuchen, wie FREUD es vorschlägt, die konkreten sozialen Phänomene wie die Symptome der Individualneurose als Erscheinungsform einer zugrundeliegenden Störung anzusehen und von dort mit Hilfe der psychoanalytischen Sozialpsychologie auf die Genese derselben zurückzuschließen.

Man könnte also mit einer Reflexion der Kriegs-Metapher beginnen: Wer ist eigentlich "der Feind"? Die Drogen? Ihre Hersteller? Ihre Gebraucher? Faktisch treffen die Strafrechts-Geschütze ja zu 80% die Gebraucher mit der Folge, daß eine nicht so kleine Gruppe der Gesellschaft wird der Verelendung preisgegeben wird. Ausgeübt wird die massive kollektive Gewalt nicht so sehr gegen die sog. Hintermänner, sondern gegen die Endverbraucher.

Zwar sind es allemal Substanzen, die von Menschenhand höchst diesseitig zubereitet, erzeugt und genossen werden. Gleichwohl sind es "Die Drogen", die in numinoser Suggestion als zu bekämpfende, jenseitige Feindesmacht gekennzeichnet werden, ein zur "Drogen-Pest" und "Geißel der Menschheit" stilisiertes, Phantom. Also sind sind doch sie der eigentliche Kampfesgegner. Es ist zum einen in der kollektiven subjektiven Widerspiegelung der Politikinhalte eine dunkle, ominöse, schrankenlos sich ausdehnende und vernichtende böse Macht. Es ist zum anderen gesellschaftlich-öffenntlich erlebbar als eine Art Partisanen-Macht, die sich unsichtbar ausbreitet, den Staat "von innen" her vergiftet ("Rauschgift"), aushöhlt und zerstört. Durch solche Zuschreibungen bekommen die Drogen zugleich aber - wie der "spirit" des Alkohols - etwas sehr abstraktes, vergeistigtes, das an das Mythische der "Bösen Geister" und Dämonen gemahnt. Im polaren Gegensatz zum "Guten Geist", zum "lieben Gott", sind sie des Teufels, Incubus, das Böse per se, von dem insbesondere die Drogenabhängigen besessen sind.

So signalisiert denn auch die heutige Drogen-Kriminalisierung: von bestimmten Drogen muß man absolut abstinent bleiben, jedwede Berührung mit diesem Bösen per se vermeiden. Bereits der "erste Schuß" - der Feind schießt immer zuerst, wenn man sich nicht wappnet! - zieht Sucht und unwürdigen Tod in der Gosse oder auf der Bahnhofstoilette nach sich. Der selbstverschuldet Unmündige muß wie der "Geisteskranke" davor geschützt werden, sich der teuflischen Besessenheit auszuliefern. Dem entsprechen insbesondere neuerdings debattierte "Lösungsvorschläge" einer quasi unterbringungsrechtlich zu realisierenden Zwangstherapie, also Teufelsaustreibung, für alle Fixer.

3. Drogen-Tabu und Drogen-Moral

Die illegalen Drogen haben durch solche Stilisierung mehr und mehr den Charakter eines apriorischen und absoluten Unwerts, von etwas naturgegeben Dämonischem erhalten. Dieses fraglos Böse ist nicht mehr weiter hinterfragbar oder begründbar, es ist ebenso unberührbar wie das fraglos Gute, das Göttliche, es ist ein Tabu. Tabu, ein ursprünglich polynesisches Wort, bedeutet nämlich

"einerseits: heilig, geweiht, anderseits: unheimlich, verboten, unrein. .... Die Tabubeschränkungen sind etwas anderes als die religiösen oder moralischen Verbote. Sie werden nicht auf das Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern verbieten sich eigentlich von selbst; von den Moralverboten scheidet sie das Feheln der Einreihung in ein System, welches ganz allgemein Enthaltungen für notwendig erklärt und diese Notwendigkeit auch begründet. die Tabuverbote entbehren der Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen verständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen."


Der heutigen Zeit entsprechend wird das Drogen-Tabu natürlich nicht als solches deklariert, ja es ist als solches nicht bewußt. Es manifestiert sich als "gesichertes Wissen", als "sichere Überzeugung", "eindeutige Meinung", geladen mit einem Empfinden wie "Das weiß man einfach!" Dementsprechend wird auch nicht hinterfragt. Es hat - bezogen auf das Individuum - durchaus den Charakter von Selbst-Gewißheit, von Weltanschauung und Gewissen und - bezogen auf die Mitglieder einer entsprechenden Gruppe oder Gesellschaft - einer sozialintegrierenden Gruppenmoral.

Durch den Prozeß der Moralisierung wird das Tabu gleichsam operationalisiert, in Kategorien von Gut und Böse bzw. entsprechende Handlungsanweisungen umgesetzt. Dabei kann dann durchaus eine scheinbar empirische oder rationale Begründung präsentiert werden. So heißt es: Drogen schädigen die Gesundheit bzw. die "Volksgesundheit". Daß damit der Tabu-Charakter nicht wirklich aufgehoben ist, sehe ich dadurch bestätigt, daß die Realität dieser Behauptung nicht systematisch nachgeprüft wird, daß sofort "Lager" und "Fronten" gebildet werden, statt einen rationalen Diskurs zu führen, daß Zweifler und Dissidenten in die Ecke von "Volksverführern" gestellt werden und daß die inhumane Verelendungspolitik beibehalten wird. Insofern unterscheidet sich die Tabuisierung der illegalen Drogengebraucher qualitativ von der Ausgrenzung der "normalen" Kriminellen: dabei wie bei der überschießenden Kriminalitätsfurcht handelt es sich eher um politisch funktionalisierbare kollektiv-neurotische Mechanismen der unbewußten Erregung und der Projektion von dissozialen Handlungsimpulsen.

Die Prozesse der Moralisierung können sich auf der Grundlage desselben Tabus insoweit differenzieren, als partikulare Moralen mit verschiedenen Inhalten bei gleichem Resultat entstehen. Z.B. die mit biblischer Letztbegründung gestützte klerikale Moral oder protestantische "Pflicht-Ethik", die "Arbeitsmoral" des Kleinbürgertums, die um die politische Kampfkraft der Arbeiterklasse fürchtende "Linke Moral", die "Betriebs-Moral" eines Unternehmens, oder die "Familien-Moral" eines traditionsbewußten Clans. Es ist nicht schwer, die politische und ökonomische, die machtsichernde Funktionalität solcher Moralen zu durchschauen: politische Folgebereitschaft und Konformität kraft klarer moralischer Vorgaben, Denkverbote und Sanktionen; Erhalt der Fabriktugenden wie Gehorsam, Produktivität, geringe Fehlzeiten, geringe Streikbereitschaft etc.

Dem entsprechen die Manipulationstechniken des heutigen "Zeitgeists": Public relations, "Corporate Identity", Prämiensysteme etc. Letztlich findet die am meisten generalisierte und durchsetzungsfähigste Moral ihren Niederschlag im Recht, wobei wiederum die Prozesse der Verrechtlichung soziologisch aufgehellt werden können.

Regelfall der Moral sind Gebote und Verbote, welche sich auf den Schutz und Erhalt des Gemeinschaftswesens bzw. -friedens beziehen, insbesondere auf das Interesse der Bürger, nicht geschädigt zu werden. Ein Teil moralischer Regeln bezieht sich jedoch auf selbstschädigendes Verhalten. Hier kann man zunächst den Gedanken nicht von der Hand weisen, im "wohlverstandenen Interesse" eines als uninformiert oder handlungsunfähig eingeschätzten Individuums intervenieren zu müssen.

Kategorial zu unterscheiden sind jedoch zunächst die Situationen, in denen ein Individuum als mündig und zurechnungsfähig gilt, von denen, wo dies - sei es aufgrund von Jugend, Alter, Krankheit, Affektzustand etc. - nicht der Fall ist. Im letzteren Fall versteht sich von selbst, daß das handlungsinkompetente Individuum nicht bestraft wird, jedoch durch die dafür vorgesehenen regulativen Zwangsmaßnahmen, insbesondere die öffentlich- oder zivilrechtliche Unterbringung so lange in seiner Freiheit beschränkt werden darf, wie der Zustand andauert und die Maßnahme verhältnismäßig ist. Es bleiben lediglich Definitions- und Abgrenzungsprobleme.

Wenn ein Bürger hingegen im Zustand der Normalität bewußt und gewollt handelt, dürfen wir nach dem liberalistischen Konzept unserer Verfassung nicht freiheitsbeschränkend intervenieren. Dem trägt das Strafrecht ausdrücklich Rechnung: Selbstschädigung ist, selbst in der Extremform des Suizids, nicht strafbar; deshalb sind nach der Logik unserer Verfassung auch die Beihilfe zu oder das Untätigbleiben des Garanten bei Selbstschädigung nicht strafbar. Einen Kompromiß mit dem fürsorgend-bevormundenen Aspekt des Sozialstaatsprinzips macht unsere Rechtsordnung insofern, als ein sich selbst schädigender Mensch als krank und mithin "willensmangelhaft" handelnd beurteilt und somit nicht-strafenden Zwangsmaßnahmen unterworfen werden kann.

Ist dies aber eindeutig nicht der Fall, wie z.B. bei dem aus Neugier, Frust oder welchen Gründen auch immer probierenden Drogen-Einsteiger, so muß sich der Staat mit Zwangsmaßnahmen zurückhalten. Wenn man - die Schädigungshypothese einmal kontrafaktisch (s.o.) unterstellt - den Bürger mit wohlmeinendem Zwang vom Gebrauch bestimmter Drogen abhält, verhält man sich wie ein sachlich oder emotional überlegener Vormund bei passagerer Entmündigung des Objekts. Erst recht, wenn man ihn zur Duldung einer Intervention in sein Innenleben, zu Therapie zwingt. Dies ist die "ernsthafte" Art des Paternalismus". Über sein Rechtsgut Leben und Gesundheit darf der Bürger immer noch selbst verfügen - außer z.B. wenn er Soldat ist. Deshalb ja auch die Konstruktion des von der Mutter unabhängigen Rechtsguts "ungeborenes Leben" im Fall der Abtreibung.

Davon ist die Frage zu sondern, ob Unwissenheit und Unerfahrenheit eines Bürgers, ein unleugbares Wissensgefälle im Fall des als unvernünftig und selbstschädigend beurteilten Verhaltens dazu berechtigen, ja verpflichten, nach bestem Wissen und Gewissen aufzuklären, zu beraten, zu helfen. Das müßte dann aber ein Prozeß der Verständigung und Einigung zwischen zwar unterschiedlich kompetenten, aber dennoch gleichrangigen Menschen sein, der auch nicht von Macht- und Überheblichkeitsgefühlen einerseits bzw. Unterworfenheitserleben andererseits affektiv gekennzeichnet Diese akzeptable, "weiche Art des Paternalismus" kann durch außerstrafrechtliche Regulierung verwirklicht werden, z.B. durch eine Beratungspflicht. Es kann auch zwanglos durch schlichte Normalisierung gehen: jede medikamentöse Behandlung setzt eine den ärztlichen Sorgfaltspflichten genügende Untersuchung und Aufklärung des Patienten voraus. Das würde jedoch die Legalität der Substanzen voraussetzen. Wenn sich jemand trotz Aufklärung in vollem Bewußtsein selbst schädigen will, dürfen wir ihn nicht hindern - wir können es auch nicht.

Sicher ist eine Verhaltensmoral legitim, die dem Individuum aufgibt, sich sozialer Verantwortung zu stellen, der Gemeinschaft nicht zur Last zu fallen. Nur ist hier die Grenzziehung so schwierig, daß der Staat im Zweifel auch auf die außerstrafrechtliche Regulierung (z.B. über differenzierende Versicherungsbeiträge etc.) verzichten muß. Adäquat erscheint mir einzig die zivilrechtliche Lösung, die denn auch den größten verhaltensändernden Einfluß hat, z.B. bei Helm- und Anschnallpflicht: das Mitverschulden des Geschädigten hinsichtlich des eigenen Schadens. Nur: Voraussetzung ist der Fall einer Fremdschädigung, wie er bei Drogenerwerb oder -abgabe nicht vorliegt..

Man muß allerdings immer wieder betonen: Ihre Legitimität erhält auch die weiche Art des Paternalismus nur aus der Behauptung Tatsache, daß die Drogen per se gefährlich seien. Ihre Legitimitätsgrundlage verliert sie da, wo - wie inzwischen hinsichtlich vieler illegaler Drogen gesichert - der vernünftige Konsum im angemessenen Setting nicht gefährlich zu sein bräuchte, oder jedenfalls weniger gefährlich als die Massendrogen Alkohol und Nikotin.

Die entscheidende normative Schaltstelle ist also lediglich, ab wann man definiert, daß der Bürger durch Drogenkonsum so willensunfähig wird, daß "hart-paternalistische" Zwangsmaßnahmen angemessen sind. Dieser Frage braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden, weil hier nur die Frage nach der Legitimität des Strafrechts Gegenstand ist. Ebenfalls an anderer Stelle wäre unter dem Aspekt "Herrschaftstechniken der Moralisierung" zu untersuchen, wie bestimmte Inhalte jenseits von Traditionen moralisiert werden.

Im Fokus sind hier die Bedingungen der Akzeptanz solcher Moralnormen. Aus psychologischer Sicht geht es dabei um den Prozeß der Verinnerlichung von Moralnormen, also das Verstehen und Integrieren des Norm-Sinns im Ich und die entsprechende Übernahme der äußeren Sanktionsgewalt ins Über-Ich.

Reine Zwangsmoralen lassen sich auf Dauer nicht durchsetzen, auch nicht in noch so manipulierten Mediendemokratie, weil es an der Ich-Integrierbarkeit der Inhalte fehlt und mit reiner Über-Ich-Angst nicht getan ist. Das belegen die Geschichte der Abtreibung und der Homophobie. Schädlichkeitsmythen sind auf die Dauer nicht kontrafaktisch aufrechtzuerhalten. Zumindest kristallisieren sich dann in der Gesellschaft gegensätzliche Moralen und sie vertretende Strömungen und Kräfte, wie z.B. bei §§ 218 u. 175 StGB.

Es muß tiefer liegende Bereitschaften geben, stark verbreitete kollektiv-psychologische Dispositionen, welche verstehbar machen, daß bestimmte Moralen kontrafaktisch haltbarer sind als andere. Ich meine, es sind jene tabu-begründeten Moralen, welche gegen Aufklärung besonders resistent sind. Wir müssen also nach den individual- und sozialpsychologischen Bedingungen der Tabu-Bildung fragen.

6. Das Drogen-Tabu - Unbewußte Gründe und Konsequenzen

Die Zeiten magisch-animistischen Denkens der Naturvölker, denen die Tabus zuzurechnen sind, sind vorbei, so schien es. Inzesttabu, Todestabu, Sexualtabu sind unter dem Impakt der Aufklärung geschrumpft und zerbröckelt, erscheinen nur noch rudimentär. Wie konnte es dann - wenn meine These stimmt - mit Beginn der Drogenprohibition vor bald 90 Jahren zu einem derartigen Wiederaufleben von Tabus kommen? Warum sind Tabus offenbar in unterschiedlichem Maße resistent gegen Aufklärung?

Tabus sind per definitionem anti-aufklärerisch, eine Erscheinungsform des Nicht-Hinsehen-Wollens. Der Mensch unterliegt der Suggestion, daß das Tabu sich selbst rächt.

"Wer ein Tabu übertreten hat, der ist dadurch selbst tabu geworden. Gewisse Gefahren, die aus der Verletzung eines Tabus entstehen, können durch Bußhandlungen und Reinigungszeremonien beschworen werden. Als die Quelle des Tabu wird eine eigentümliche Zauberkraft angesehen, die an Personen und Geistern haftet und von ihnen aus durch unbelebte Gegenstände hindurch übertragen werden kann. Personen oder Dinge, die tabu sind, können mit elektrisch geladenen Gegenständen verglichen werden; sie sind der Sitz einer furchtbaren Kraft, welche sich durch Berührung mitteilt und mit unheilvollen Wirkungen entbunden wird, wenn der Organismus, der die Entladung hervorruft, zu schwach ist, ihr zu widerstehen."

Genau dies spielt sich in der öffentlichen, medialen und politischen Reaktion auf Drogen ab: die Suggestion, wenn man auch nur einmal mit Drogen oder dem Drogengebraucher in Berührung komme, sei man verloren. Das zeigt sich z.B. im hellen Entsetzen von Menschen, die auf dem Rathausplatz von Bremen Zeuge einer demonstrativen öffentlichen Heroin-Selbstinjektion zur Unterstreichung der Forderung nach geschützten "Druck-Räumen" wurden. Kaum ein Mensch würde derartiges Aufheben über eine im Krankenhaus beobachtete Injektion machen. Es ist also zunächsteinmal eine Zauberkraft, ein gefährliches und infektiöses magisches Potential, welches den illegalen Drogen zugeschrieben wird. Die Angst vor den Drogen speist sich aus einer offenbar wiederbelebten archaischen "Furcht vor der Wirkung dämonischer Mächte", einer Furcht welche jetzt auf die Drogen verschoben ist. FREUD analogisiert diese Erscheinungsformen mit der Zwangskrankheit:

"Das Haupt- und Kernverbot der Neurose ist wie beim Tabu das der Berührung, daher der Name: Berührungsangst." ... Den Zwangsverboten ist eine großartige Verschiebbarkeit zu eigen, sie dehnen sich auf irgend welchen Wegen des Zusammenhanges von einem Objekt auf das andere aus und machen auch dieses neue Objekt ... 'unmöglich'. Die Unmöglichkeit hat am Ende die ganze Welt mit Beschlag belegt. Die Zwangskranken benehmen sich so, als wären die 'unmöglichsten' Personen und Dinge Träger einer gefährlichen Ansteckung, die bereit ist, sich auf alles Benachbarte durch Kontakt zu übertragen."


Abgesehen von der Selbsteinschränkung durch Verzicht - der geforderten Abstinenz - findet sich auch die magische Buß- und Reinigungsphantasie des Zwangskranken im Recht vergegenständlicht. Zum einen die verwirkte Strafe. Das würde den Wertungswiderspruch miterklären, daß ein Verhalten bestraft wird, welches in anderen Rechtsbereichen, z.B. sozialrechtlich, als Krankheit gilt. Zum anderen die stationäre Langzeittherapie, welche insbesondere in der verbreiteten behavioristischen Form erzwungener Abstinenz und psychischer Selbstentblößung an den Waschzwang, das häufigste Symptom der Zwangsneurose gemahnen.

Der entscheidende unbewußte Inhalt des Tabus ist, wenn man der Analogie zur Zwangskrankheit folgt, die Ambivalenz der Gefühlsregungen. Am Anfang stand nämlich eine

"starke Berührungslust, deren Ziel weit spezialisierter war, als man geneigt wäre zu erwarten. Dieser Lust trat alsbald von außen ein Verbot entgegen, gerade diese Berührung nicht auszuführen. ... Das Verbot wurde aufgenommen, denn es konnte sich auf starke innere Kräfte stützen; es erwies sich stärker als der Trieb, der sich in der Berührung äußern wollte. Aber infolge der primitiven psychischen Konstitution des Kindes gelang es dem Verbot nicht, den Trieb aufzuheben. Der Erfolg des Verbotes war nur, den Trieb - die Berührungslust - zu verdrängen und ihn ins Unbewußte zu verbannen. Verbot und Trieb blieben beide erhalten; der Trieb, weil er nur verdrängt, nicht aufgehoben war, das Verbot, weil mit seinem Aufhören der Trieb zum Bewußtsein und zur Ausführung durchgedrungden wäre. Es war eine unerledigte Situation, eine psychischen Fixierung geschaffen, und aus dem fortdauernden Konflikt von Verbot und Trieb leitet sich nun alles weitere ab." "Das Verbot verdankt seine Stärke - seinen Zwangscharakter - gerade der Beziehung zu seinem unbewußten Gegenpart, der im Verborgenen ungedämpften Lust, also einer inneren Notwendigkeit, in welche die bewußte Einsicht fehlt. Die Übertragbarkeit und Fortpflanzungsfähigkeit des Verbotes spiegelt einen Vorgang wieder, der sich mit der unbewußten Lust zuträgt und unter den psychologischen Bedingungen des Unbewußten besonders erleichtert ist. Die Trieblust verschiebt sich beständig, um der Absperrung, in der sie sich befindet, zu entgehen, und sucht Surrogate für das Verbotene - ERsatzobjekte und Ersatzhandlungen - zu gewinnen."


Tabus sind also nach FREUD solche Zustände oder Verhaltensweisen, die unbewußt zutiefst, d.h. triebhaft erstrebt sind, die jedoch zwecks Vermeidung eines bedrohlichen Konflikts verdrängt und mit der fraglosen Vorgabe der Unberührbarkeit gegenbesetzt werden. Es muß eine unbewußte Phantasie des ungefähren Inhalts geben: Wenn ich eine verbotenen Gegenstand berühre, ein bestimmtes Verhalten ausübe, passiert etwas Katastrophales, nur die absolute Vermeidung, hilfsweise aber Buße und Reinigung können mich retten. Ambivalenz bezeichnet also den aus einem befürchteten äußeren Konflikt resultierenden inneren Konflikt, der durch Verdrängung, Verleugnung, Projektion und Gegenbesetzung gelöst wird. Die Lösung ist jedoch nur scheinbar, denn die verdrängte Triebstrebung geht nicht unter, sondern kehrt, wenn auch in den verschiedensten Formen entstellt, verzerrt, ins Gegenteil verkehrt, auf andere Objekte verschoben, wieder.

Nun erleben wir viele Strebungen, ohne daß deren Realisierung als katastrophal in ihren Auswirkungen phantasiert wird. Es muß bestimmte Triebstrebungen geben, die wegen ihres Inhalts verdrängt werden. FREUD nennt in diesem Zusammenhang zum einen die Berührung der Genitalien. Zum anderen führt er den Neid an: Wir verzichten auf etwas, von dem wir annehmen, daß mir die anderen das ebenso neiden, wie ich ihnen das neiden würde. Am Beispiel der Macht des Königs verdeutlicht er, daß die Übertretung des Tabuverbots, nämlich die Berührung des Königs, die Usurpation der Macht, eine

"soziale Gefahr bedeutet, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft gestraft oder gesühnt werden muß. Diese Gefahr besteht wirklich, wenn wir die bewußten Regungen für die unbewußten Gelüste einsetzen: Sie besteht in der Möglichkeit der Nachahmung, in deren Folge die Gesellschaft bald zur Auflösung käme. Wenn die anderen die Übetretung nicht ahnden würden, müßten sie ja inne werden, daß sie dasselbe tun wollen wie der Übeltäter."


Nun besteht aber hier die Gefahr des Zirkelschlusses: wenn etwas als strafwürdig empfunden wird, bedroht es die Gesellschaft, wenn das massenhaft praktiziert wird, und weil es die Gesellschaft bedroht, muß es für strafwürdig erklärt werden. Was ist aber das spezifisch gefährliche? Warum wird ein bestimmtes Verhalten so beneidet und nicht jedes andere, was ist der Inhalt, was das Ziel der Triebstrebung? Wenn es nicht etwas ganz besonders Reizvolles, Lustvolles, Extremes wäre, gäbe es keinen Anlaß andere darum zu beneiden oder den Neid der anderen zu fürchten.

Zu der Phantasie muß gehören: Wenn ich dem anderen antue, was ich ihm primär antun möchte, wird er mir dasselbe antun. Oder: Wenn ich dem anderen das Begehrte wegnehme, werde ich dafür ebenso bestraft, z.B. mit der Tötung, wie ich umgekehrt den Impuls habe, denjenigen zu strafen, der mir das Begehrte wegnimmt.

Dabei handelt es sich um den Mechanismus der Projektion: verpönte, ängstigende Impulse werden auf dafür sich eignende Objekte verlagert und in diesen bekämpft und ausgegrenzt. Dabei geht es um die "klassischen" Tabus, nämlich Inzest bzw. Exogamiegebot und Tod bzw. Tötungsverbot. Diese sind - im Rahmen des psychoanalytischen Paradigmas - abzuleiten aus den postulierten Trieben Libido und Destrudo (Aggressionstrieb), deren Zusammenhang FREUD im Ödipus-Komplex sah. Danach liegt das Inzesttabu den Sexualtabus zugrunde: jegliche Sexualität ist Verschiebungsersatz für die verpönte Ur-Phantasie und der damit einhergehende phantasierte Vatermord ist scheinbarer Ausgangspunkt jeglicher Aggressivität und Rivalität.

Zwar hat die Sexualmoral sich im 20. Jahrhundert grundlegend geändert. In der heutigen Modellierung der Sexualitäten, in der zunehmenden Entsublimierung, zeigt sich aber auch ein begrenzendes, repressives Strukturelement der "neuen" Sexualmoral: Sexualität wird im Maße der gesellschaftlichen Thematisierung auch konfektioniert, zum steuernden "Dispositiv der Macht". Masturbation ist die erste rein lustorientierte, nicht von der Fortpflanzungsmoral (zu-)gedeckte sexuelle Praxis, die der Sexualmoral zum Opfer fällt.

"Narkotika zum Ersatze - direkt oder auf Umwegen - des mangelnden Sexualgenusses bestimmt sind, und wo sich normales Sexualleben nicht mehr herstellen läßt, da darf man den Rückfall des Entwöhnten mit Sicherheit erwarten."

Die Drogen werden insofern vom - seinerseits aus dem Inzesttabu hervorgegangenen - Sexualtabu erfaßt, als sie - zumindest in der Phantasie - mit Kontrollverlust und Extase, mit grenzenloser Steigerung der Lust in Verbindung gebracht werden. Dem Moment des Orgasmus, den Sekunden der Extase wohnt - gleich der beglückenden, die Realität ausblendenden Drogenwirkung - die Sehnsucht nach Wiederholung, Steigerung, Auf-Dauer-Stellung inne, die Phantasie allmächtig und gottgleich über dieses Hochgefühl und extatische Potential verfügen zu können. Die ewige Suche nach dem absoluten Aphrodisiakum - mindestens ebenso intensiv betrieben wie die Suche nach der chemischen Synthese des Goldes - verweist auf diese Phantasiezusammenhänge ebenso wie Geheimkulte de Sade`scher Manier oder hochritualisierte Sexualkulturen wie die Liebes- und Extasekulte des Tantrismus, die im alten Indien mindestens seit dem 6. Jahrhundert bis zur Eroberung durch die Briten praktiziert wurden. Als Tatsache erscheint jedenfalls nach Erfahrungsberichten und psychoanalytischem Material, daß sexuelles Erleben zum einen jenseits der gesellschaftlich lizensierten Verhaltensmuster durchaus Ich-gerecht formbar und bis zu einem gewissen Grade steigerbar ist, ohne daß man dabei hinsichtlich Triebobjekt und Triebziel von Sexualpathologie sprechen könnte. Zum anderen können bestimmte Drogen insofern zu solchem Erleben beitragen und sind in vielen Kulturen insofern auch als Aphrodisiakum genutzt worden, als sie passager das Über-Ich entlasten und Lustpotentiale freisetzen.

In diesem Zusammenhang sind auch Faszination und Furcht bezüglich sexuellen Perversionen zu verstehen: Bei aller Empörung oder Pathologisierung schwingt doch auch die Sehnsucht nach der absoluten Steigerung und Perpetuierung der sexuellen Extase mit, und der Verzicht auf die "sauren", weil unerreichbaren "Trauben".

Umgekehrt werden - vor allem im Zeichen von AIDS - Praktiken zum Bestandteil akzeptierter offizieller Sexualmoral, die vorher den Perversionen zugerechnet wurden: z.B. Peep-Show, Telefon-Sex. Sie schalten virtuell das in zwischenmenschlicher Sexualbeziehung allemal schlummernde Extase-Potential aus, heben aber in der perversen Inszenierung etwas von der zugrundeliegenden Extase-Sehnsucht auf, die zugleich durch die gesellschaftliche Schablonisierung, durch die am Telefon ausgetauschten Sexualklischees wieder begrenzt wird.

Die von FREUD herausgearbeitete Analogie der Abwehrmechanismen bei der Zwangskrankheit und bei den Tabus, insbesondere der Verschiebung, kann man hier bestätigt sehen: Die Warnung vor der Droge beinhaltete immer schon die Phantasie, unter Drogeneinfluß leichter verführbar zu sein. Diese bewußte Bedeutung ist in der allgemeinen Drogophobie praktisch verschwunden bzw. ebenfalls verdrängt worden und durch die Phantasie ersetzt worden, es drohe sozusagen direkt von der Droge der Tod. Die Sehnsucht und Suche nach sexueller Extase wird im Zuge der sich immer weiter verallgemeinernden und verschiebenden Abwehr selbst als Suchtform denunziert und negativ normiert.

Schon an dem biblischen Mythos vom Sündenfall, an der Symbolik des Genusses des tabuisierten Apfels, knüpft das "Rauschgift-Tabu" an: Vom Baum der Erkenntnis, d.h. der Innewerdung des Sexuellen, darf nicht gegessen werden. Dabei schmeckt der homo sapiens eben so gerne. Auch die Alkohol-Intoxikation von Sodom und Gemorrha enthält diese Metaphorik der todbringenden sexuellen Enthemmung aufgrund berauschender Substanzen sowie das Ergriffenwerden von diesem Tabu durch schlichtes Ansichtigwerden: Augen sind die ersten Sexualorgane. Wobei im Mythos ironischerweise zugleich der sexuelle Inhalt zum Ausdruck kommt: ist doch die Salzsäule, zu der man erstarrt, auch ein Penis-Symbol.

Ich meine jedoch, daß diese Ansiedelung der Kausalgenese der Drogophobie in der ödipalen Entwicklung nicht ausreicht, die Intensität der Angst, die Haltbarkeit des Mythos, die Empfänglichkeit für anti-aufklärererische Mystifizierung zu verstehen.

Dabei handelt es sich nämlich psychogenetisch nur um die sekundäre Bedeutung von Drogen. Davor sehe ich eine primäre: Es gibt genetisch noch früher einzuordnende Trieb-Erlebnisse und allererste Abwehrformen, welche das Drogen-Tabu mitbedingen.

Die oralen, nasalen, intravenösen Applikationsformen illegaler Drogen verweisen jenseits ihrer praktischen Funktionalität im Sinne optimaler Drogenwirkung symbolisch auf subjektives Erleben präödipaler Entwicklung. So erscheint schon das biblische "Schmecken" des vergifteten Apfels als symbolische Bezugnahme auf Gestilltwerden und Abgestilltwerden des Säuglings durch die Mutter. Auch das Gewalt-Tabu ist im Verlauf des "Prozesses der Zivilisation" (ELIAS) eher noch strikter geworden. Wenngleich hier auch widersprüchliche Tendenzen der Entsublimierung zu beobachten sind (z.B. nationalsozialistische Gewaltverbrechen), so scheint dies doch auf eine archaische Qualität der unbewußten Gewaltphantasien hinzudeuten, nämlich auf eine Entwicklungsphase, in der eine Fusion und Amalgamierung von libidinösen und aggressiven Strebungen überhaupt noch nicht stattgefunden hat, sondern ein Stadum der Aufspaltung von polaren Gegensätzen herrscht, auf das unter bestimmten Bedingungen (Psychose, Droge, Affektzustand, Therapie) regrediert werden kann.

Als Ur-Erleben, Ur-Phantasie und mithin undifferenzierter Ur-Quell der Triebkräfte postuliere ich im Sinne der modernen psychoanalytischen Entwicklungstheorie das Eins-Sein mit der Mutter als totales und maximales Lust-Gleichgewicht. Nach dem Ur-Trauma der Geburt als primärem Gewalt- und Angsterleben ist die Sehnsucht nach dem narzißtischen Primärzustand, nach der Wieder-Verschmelzung mit der Mutter ewiger Regressionsfokus. Es gibt eine Ur-Ambivalenz der Mutter gegenüber: einerseits die paradiesische Erfahrung des Eins-Seins mit der versorgenden Lebensspenderin und die Hoffnung auf die Wiederkehr dieses Zustandes totaler Fusion; andererseits die Urerfahrung der mütterlichen "Gewalt" im Geburtsvorgang und in der Macht zur Versagung sowie die Angst vor dem Verschlungenwerden. Die aus der zunehmend unvermeidlichen Versagung, aus Unlust- und Schmerzerfahrung resultierende Ur-Angst und Enttäuschung löst primäre Abwehrmechanismen aus: Schreien aus ohnmächtiger Wut einerseits, halluzinatorische Reinszenierung der Wiederverschmelzung andererseits. Wut und Wiederverschmelzung lösen neuerlich archaische Angst vor dem Objekt- und Selbstverlust aus und resultieren in primärer Anpassung. Dieser Auffassung entsprechen die von Melanie KLEIN und ihren Schülern angenommenen Ur-Phantasien von der Erlebnisaufspaltung des Mutter-Partialbojekts in die "gute" und die "böse" Brust. Im Schneewittchen-Märchen taucht diese Symbolik z.B. ebenfalls auf: der von der Stiefmutter, also der "bösen" Seite der Mutter, verabreichte Apfel ist zur Hälfte vergiftet. Der Apfel, die Milch, die Droge: sie haben immer ihre zwei Seiten, das Hochgefühl der Verschmelzung und die Depression der Vernichtung. Die Droge wird zugleich geliebt und gehaßt, sie wird zugleich fördernd und zerstörend erlebt.

Auf dieses Urerleben lassen sich auch die Dichotomien, Konflikte und Amalgamierungen von libido und destrudo, von Lebenstrieb und Todestrieb, von Trieb und Abwehr dialektisch zurückführen. Das Hochgefühl des genetisch späten Orgasmus bezieht sich auf Erfahrungsinhalte aus frühesten Formen des Hochgefühls ebenso wie sich Aggression, die sich später teilweise mit dem Sexualtrieb legiert, auf die aufgespaltene Matrix von Verschmelzung und Vernichtung zurückführen läßt. Nicht umsonst wird die Extase des Orgasmus auch als "der kleine Tod" (Quelle? XXX) bezeichnet: im Gefühlserleben und in der Phantasie schließt sich hier ein Zirkel von omnipotentem Hochgefühl als beständig treibender Sehnsucht einerseits und Erfahrung der Endlichkeit der Lust und des Lebens bzw. des in dem Geschlechtspartner Aufgehens, Sich-Verlierens, der Verschmelzung, Vernichtung, Tötung andererseits.

Zwar stecken die Psycho-Pharmakologie und die Psychoanalyse der Drogen noch in den Anfängen, jedoch wage ich folgende These: Der Genuß bestimmter - sicherlich nicht undifferenziert aller - psychotroper Drogen wird psychisch wie die Verwirklichung der Ur-Hoffnung auf die Wiederverschmelzung, auf das absolute Hochgefühl erlebt, zumindest wie eine Verheißung dieser "Erfüllung" (ein ausdrucksstarkes Wort daür!). Das stellt eine Kompromißleistung der Abwehr dar: der Drogengenuß hilft ein Stück weit, die Wiederverschmelzungsphantasie zu reinszenieren, schützt aber andererseits im Sinne einer narzißtischen Beziehungsabwehr vor einer wirklichen Objektabhängigkeit und der Gefahr des Verschlungenwerdens Zugleich werden sexuelle und aggressive Affekte in einem ungerichteten Hochgefühl aufgehoben und verlieren ihre Erschütterungs- und Bedrohlichkeitsqualität.

Der Drogengenuß ermöglicht auch die unbewußte halluzinatorische Reinszenierung des Frühzustandes magischer Allmacht und damit die Abwehr der Regression in primäres Ohnmachts- und Vernichtungserleben. Insofern bewirken, konditionieren und nutzen psychotrope Drogen lediglich die inneren Erlebnisqualitäten, welche sowohl biologisch als auch psychisch angelegt sind: Endorphine einerseits und das Spektrum endogener rauschhafter narzißtischer Hochgefühle bei Sexualität, sadistischer oder massenpsychotischer Aggressions-Enthemmung, realer Machtausübung.

Welches Schicksal die Ur-Triebe erleiden, welchen Verlauf der archaische Triebkonflikt nimmt ist eine Frage der psychischen Strukturentwicklung. Je nach Stärke und Relation der Instanzen des Ich und des Über-Ich überwiegen Fixierungen oder Regressionen, sind Ich-gerechte Regressionen z.B. in Therapie oder eben auch unter Drogenwirkung möglich. Anhaltender Drogengenuß kann bedeuten, daß die Angst vor Objekt- und Selbstverlust abgewehrt werden muß, weil die entsprechende Trauerarbeit nicht oder noch nicht möglich ist. Trauerarbeit setzt das allmähliche, wohldosierte Erleben von Versagungen und Abschied, von Verzicht auf Allmacht und Idealisierung voraus, welches in einer ausreichend günstigen Sozialisation durch vielerlei Progressionen und Tröstungen kompensiert wird.

Auch hinsichtlich des Drogengenusses bedeutet Trauerarbeit Abschied. Nämlich Trennung vom "Ersatz-Objekt" Droge. Bei allmählich nachlassender Drogenwirkung wiederholt sich im unbewußten Erleben die Trennung von der Mutter, von der Kindheit. So ist denn auch bekannt, daß - abgesehen von den physiologisch und pharmakologisch zu erklärenden Erscheinungen der Abängigkeit und Toleranzbildung, das Anziehungserleben der Drogenwirkung abnimmt. Je nach psychischer Disposition und sozialem Setting ist der Mensch in unterschiedlichem Maße fähig, die Enttäuschung dieser Hoffnung zu verarbeiten. Adäquat ist nur die Verarbeitung durch Trauer. Sonst folgt Wut und deren Abwehr durch weitere Abhängigkeit und Depression bzw. deren Abwehr durch weiteren Drogenkonsum. Andererseits wird so verständlich, was die soziologische Drogenforschung herausgearbeitet hat: Etwa ein Drittel der Heroingebraucher werden im Stadium des Jungerwachsensein abhängig und steigen jenseits des Alters von 30 - 35 Jahren allmählich ohne irreversible Gesundheitsschäden von selbst aus der Abhängigkeit aus.

So ist denn auch die plausible Bedeutung der Perversion, daß hier Trauer nicht möglich ist und das Trennungs/Verschmelzungs-Trauma permanent reinszeniert und wiederholt werden muß, um durch die extreme Ritualisierung und Willenssteuerung des Geschehens in gleichsam magischer Weise die Kontrolle wiederzuerlangen.

Das Inzestverbot ist insofern nur sekundär als ödipale Konfliktlösung und als gesellschaftsfunktional i.S. des Exogamiegebots zu verstehen. Es erscheint vielmehr als die spätere Ausgestaltung der frühen Angst vor dem unbewußt phantasierten Selbstverlust durch Wiederverschmelzung mit der Mutter. In der allgemeinen Paradies-Sehnsucht des Menschen spiegelt sich dieser Phantasie-Hintergrund ebenso wie in Begehrlichkeit, Neid, Geiz. Sammelwut etc.: allesamt Formen des Festhaltens an und Abkömmlinge der Phantasie, alles zu haben, alles zu können und alles andere zu vernichten.

Die unbewußte Phantasie von Paradies, Macht, Omnipotenz, welche an die Rauschdrogen geknüpft wird, erweist sich auch in der Faszination der Forscher, Allheilmittel oder gar das Mittel der Unsterblichkeit zu finden - Analogon zur Suche der Alchimisten nach der magischen Formel zur Goldherstellung. In dem unentwegten Bestreben der Prohibitionisten, die Drogen wie das Böse endgültig auszumerzen, findet sich als Abwehrkompromiß die Kehrseite dieses an die Droge geknüpften Allmachts-Wunsches. Er ist nun auf das Strafrecht verschoben und auf das Reinigungsritual der Zwangstherapie, man partizipiert unbewußt an dieser phantasierten Allmacht. Darin liegt zudem noch ein Kompromiß mit den destruktiven Triebanteilen: Sadistische Befriedigung durch Strafen desjenigen, der sich den Genuß gönnt, bei voll entlastetem Über-Ich.

Die abgespaltene, verleugnete, projizierte, in Ritualen isolierte primäre Destruktivität, die unbewußten Tötungsphantasien spiegeln sich auch im Diskurs über die "Drogentoten", im ritualisierten täglichen Zeitungsbericht - ähnlich der Mordberichterstattung. Warum gibt es wohl keine ebensolchen Berichte über Alkohol- und Verkehrstote?

Die Drogophobie ist auch Ausdruck der Abwehr der Angst vor Abhängigkeit, Wahnsinn, Kontrollverlust, Durchbruch sowie vor der Rache der unbewußt phantasierten Adressaten der Destruktivität, der "Feinde": Hier zeigt sich das Todes-Tabu hinsichtlich der Feinde, wlches FREUD analysiert. Die Ängste vor Strafe, Vernichtetwerden und Tod sind ihrerseits Resultate von Projektion und Externalisierung der genannten bedrohlichen Triebimpulse.

Ich sehe z.B. den sog. psychiatrischen Agnostizismus als Ausdruck des Tabus, als Abwehr der Berührungs-Angst, dem Kranken in seinen Wahn zu folgen, und dadurch den eigenen archaischen abgespaltenen Triebimpulsen wiederzubegegnen. Ähnlich zu deuten ist möglicherweise die Tatsache, daß Psychoanalytiker sich nicht darum bemühen, Drogengebraucher in Analyse oder Therapie nehmen. Nun mag es - wie beim Todes-Tabu hinsichtlich der Feinde, auch - Schuldgefühle für das den Drogengebrauchern zugeteilte Strafübel geben. Diese müssen beständig durch verstärkte Dramatisierung des Drogenübels oder durch andere Entschuldigungsrituale gerechtfertigt werden.

Jedenfalls finden wir in der kollektiven Drogophobie eine ähnliche Kompromißbildung wie bei Neurose, Borderline-Zustand und Psychose: Triebverwirklichung und Abwehr gehen ein Amalgam ein, werden gesellschaftlich modelliert und normiert. Auch die Begriffe von Sucht und Abhängigkeit sind nicht deskriptiv, sondern wandelbare gesellschaftliche und normative Konstrukte. Es erscheint an der Zeit, diese Begriff einer tiefgreifenden Analyse zu unterziehen. Allzu umstandslos werden Abhängigkeit und Sucht als scheinbar empirische Begriffe mit Krankheit gleichgesetzt, z.B. im Sozialrecht. Es handelt sich also um einen beispielhaften Fall gesellschaftlicher Konstruktion von äußerer und innerer Realität, nämlich der Konstruktion und Funktionalisierung von Angst und Abwehr, von Abweichung und Krankheit einerseits und Abstinenz und Konformität andererseits.

4. Für eine neue Drogen-Moral - Prozeduralisierung als Voraussetzung

Auch wenn mir der Leser unter Bestehen auf der Schadenshypothese nur probeweise in dies Gedankenexperiment gefolgt ist, müßte er zustimmen, daß die bestehende Drogenmoral entweder auf eine bessere Grundlage gestellt werden muß oder daß eine neue, aufgeklärte, "prozeduralisierte" Drogen-Moral gefunden werden muß.

Wenn neue Moral, dann bleibt nur ein umfassendes Konzept der Legalisierung und Regulierung, also eine kontrollierte Freigabe der heut illegalen Drogen. Alle Vorstellungen einer Freigabe nur "weicher" Drogen oder nur des Cannabis müssen an logischer Inkonsistenz und faktischer Wirkungslosigkeit im Hinblick auf Schwarzmarkt, Verelendung und Mafia leiden. Es muß einer gründlichen und auf Expertenwissen ebenso wie auf Werte-Diskurs beruhenden Prozedur überantwortet werden, die ein Regulationssystems zu entwickeln. Mein Vorschlag läuft auf eine drogenspezifisch differenzierende Lösung hinaus. Manche der heute illegalen Drogen könnten wohl als Genußmittel analog Alkohol und Nikotin mit gewissen Beschränkungen freigegeben werden. Andere müßten in ein System fachkundiger Verschreibung, Abgabe oder Verabreichung überführt werden, um die entsprechende Beratung und Aufklärung zu gewährleisten. Das wird wohl nur mit spezfisch fachkundigen Ärzten oder anderen Spezialisten, z.B. einer Selbstorganisation der entsprechenden Konsumenten, möglich sein.

Die entrüstete, "puristische" Abwehr der Ärzte und teilweise auch Apotheker, sie wollten keine "Dealer in Weiß" sein, erscheint jedenfalls heuchlerisch: Sei es aus Hilflosigkeit gegenüber den wirklichen Störungsursachen, sei es aus dem allgegenwärtigen Gewinnmotiv heraus verschreiben doch Ärzte seit langem hochwirksame und abhängig machende psychotrope Drogen. Die zumeist irreversiblen Nebenwirkungen und Folgen der massenhaften Verschreibung von legalen "Uppern" und "Downern", von gefährlichen Schlafmitteln etc. werden in Medizin und Gesellschaft nicht im Entferntesten so thematisiert wie die illegalen Drogen. Die Sündenbockfunktion der illegalen Drogen einerseits und die unangemessen entlastende Ventil-Doppelmoral des Alkohols muß offengelgt werden. Die psychotropen Drogen, inklusive Alkohol und Nikotin, müssen insgesamt, in nüchterner und differenzierender betrachtet und problematisiert werden. Der wissenschaftliche und politische Blick muß endlich auf die eigentlichen, zugrundeliegenden Probleme gerichtet werden. Und: der Drogen- und Suchtbegriff muß entschlackt werden von seinem Tabu-Gehalt, in vernünftiger und humaner Weise muß den Menschen auch ein "Recht auf Rausch" oder ein "Recht auf Extase" zugebilligt werden. Nicht zuletzt aus grundrechtlichen Erwägungen hat der Staat im Sinne eines wohlverstandenen, "weichen Paternalismus" die Pflicht, die Bürger über Risiken, aber auch über die risikoarmen Gebrauchsweisen und positiven Potentiale aufzuklären und die Bedingungen der Herausbildung einer "Drogenkultur" zu gewährleisten. Er hat nicht die Pficht, die Bürger im Sinne irgendeines wandelbaren Gesundheitsbegriffs oder Abstinenzideals oder einer Leistungs-, Arbeits- oder Beziehungsmoral zu bessern. Er hat aber die Pficht, zu entmystifizieren, Mythen zu entrümpeln, auch über die unbewußten Bedingungen der überschießenden, irrationalen "Drogophobie" aufkzuklären und unangemessene Ängste dadurch zu mildern.

Warum läuft die faktische Entwicklung dem weiterhin entgegen i.S. der skizzierten Prozesse von Mystifizierung. Mythisierung und Moralisierung? Mit den Werten und Methoden der Aufklärung, dem "Projekt der Moderene", hat das nichts mehr zu tun. Aber mit was dann? Ist das die Postmoderne in Wissenschaft und Politik? Dies könnte auf der soziologischen Eben die Erklärung sein: In den U.S.A. "verschwindet" z.B. die Philosophie, Soziologie und Gesellschaftstheorie zunehmend von den Universitäten, aus der institutionalisierten Wissenschaft. Sie wird in Bruchstücken und rein anwendungsbezogen mit anderen Disziplinen amalgamiert, z.B. der Betriebswirtschaft oder Nationalökonomie. Der weltweite Neo-Liberalismus und Pragmatismus, die an sich zu begrüßende "Ideologiefeindlichkeit" haben auf ihrer Kehrseite in Form von Narzißmus und Mach-Zynismus einen tiefgreifenden Theorie- und Kulturverlust.

Herbert Jäger hat - bezogen auf die Nazi-Verbrechen - gesagt:
"Kollektive Gewalt ist vor allem durch Rechtfertigung, Neutralisationen, Umwertungen bis hin zu Zuständen vollständiger `moralischer Anästhesie` gekennzeichnet" (JÄGER, Herbert: Kriminologie kollektiver Verbrechen. In: ders. 1967/1982: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Frankfurt 1982, S.382. Ich finde, daß die Strafverfolgung von Drogengebrauchern faktisch auch eine solche Art von kollektiver Gewalt darstellt. Und ich finde, daß auch die kollektive Verdummung der Bevölkerung eine Form von Nötigung darstellt: nämlich ein Hindernis für innere Befreiung, welches psychische Gewaltwirkung entfaltet.

Welches könnten Gegenmittel sein, wie könnte die geforderte Aufklärung etabliert werden? Ich meine es bedarf zunächst einer erneuerten gesellschaftlichen Verständigung auf eine Diskursethik der Differenzierung und Aufklärung, auf einen Verzicht auf Affektabfuhr in der Kriegslogik. Konkretisiert werden müßte das in einer veränderten politischen Moral, in einer Prozedur der Problemaufbereitung, Skizzierung von Lösungsoptionen und Konsensfindung unter Besinnung auf humane, soziale und demokratische Grundwerte unserer Gesellschaft sowie deren Abwägung.

Literatur:

BÖLLINGER, Lorenz/STÖVER, Heino: Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik. 3. Aufl., Frankfurt 1992

BÖLLINGER, Lorenz: Strafrecht, Drogenpolitik und Verfassung. Kritische Justiz 1991, S. 393 ff.

ELIAS, Herbert: (Zu Heroinabh.) In: GRIMM, Gorm: ....

FREUD, Sigmund (1885): Über Coca. PSYCHE 1973, S. 489 ff.

FREUD, Sigmund (1898): Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. GW I, S. 489 ff. (506)

FREUD, Sigmund (1913): Totem und Tabu. GW IX, S.5 ff.

HABERMAS, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt 1983

HAFFKE, Bernhard: Gibt es ein verfassungsrechtliches Besserungsverbot? MSchrKrim 1975, S. 246 ff.

KÖHLER, Michael: Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht. ZStW 104, 1992, S. 3 ff.

LUHMANN, Niklas: Soziologie der Moral. In: ders./PFÜRTNER, Stephan (Hrshg.): Theorietechnik und Moral. Frankfurt 1978, S. 8 ff.

MARCUSE, Herbert: Der eindimensionale Mensch. 3. Aufl., Frankfurt 1968

PEELE, Stanton: Redefining Addiction. Int.J.of Health Services 7, 1977, 103 pp.

SCHEIDT, Jürgen vom: Sigmund Freud und das Kokain. PSYCHE 1973, S. 387 ff.

WOLFF, Jean Claude: Paternalismus, Moralismus und Überkriminalisierung. In: GRÖZINGER, Gerd (Hrsg.): Recht auf Sucht? Berlin 1991, S. 38 ff.

 

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